Systemische
Mutismus-Therapie/SYMUT®
Module, Grundprinzipien und weitere Literatur

Abb.1: Die Module der Systemischen Mutismus-Therapie/SYMUT®
Hinsichtlich der Therapie des Mutismus im Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalter wurde im Institut eine eigene Behandlungskonzeption entwickelt, die 2004 erstmalig veröffentlicht wurde und seitdem Gegenstand von Fortbildungen, Lehrveranstaltungen und Fachpublikationen ist: die Systemische Mutismus-Therapie®, abgekürzt SYMUT®. Sie basiert auf einem systemischen Menschenbild (Modul 1), wonach keine linearen Verursachungsmuster mit eindeutigen Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen angenommen werden, sondern zirkuläre Prozesse. Diese zirkulären Prozesse beinhalten Wechselbeziehungen zwischen der betroffenen Person und der Umwelt, aber auch Wechselbeziehungen innerhalb der betroffenen Person. Der Mensch ist nach diesem Verständnis zugleich Systemmittelpunkt als auch Randpunkt.
Bei der Entstehung und Aufrechterhaltung des Mutismus werden demnach Interaktionskreisläufe einbezogen wie
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Beziehungs- und Kommunikationssysteme innerhalb der Familie,
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Wechselbeziehungen zwischen der/dem Schweigenden und den selbstgewählten Bezugspersonen (Freunde, Partner),
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Wechselbeziehungen zwischen der/dem Schweigenden und den erweiterten sozialen Kontakten (Nachbarn, Kindergärtnerinnen, Lehrer, Ärzte, Therapeuten, Fremde),
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Wechselbeziehungen innerhalb der betroffenen Person zwischen organischen und psychologischen Merkmalen (Leib-Seele-Dualismus) wie z.B. Vorbelastung durch familiäre Anlagen für kommunikative Gehemmtheit und sozialen Rückzug in Kombination mit einer neurotischen oder erlernten Abwehr von angstauslösenden Sprechsituationen durch Vermeidung,
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Wechselbeziehungen zwischen dem vorliegenden Mutismus und zusätzlichen (psychoreaktiven) Verhaltensstörungen wie Zurückhalten von Harn (Urinretention) und plötzliches Einnässen in der Schule oder im Kindergarten, weil nicht nach der Toilette gefragt wird,
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Wechselbeziehungen zwischen der Ursache (erbliche Vorbelastung/Prädisposition, Störung des Serotonin-Haushalts im Hirnstoffwechsel, Hyperreaktion der Amygdala, des Angstzentrums im limbischen System, in dem die Emotionen des Menschen gesteuert werden) und dem Auslöser (Kindergarteneintritt oder Einschulung).
Bestandteile der 8-Stufen-Diagnostik der Konzeption SYMUT® (Modul 2) sind:
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1) Mutismusdiagnostik und Differentialdiagnostik
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2) Neurologische Untersuchung
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3) HNO-ärztliche Untersuchung
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4) Patienten- und Familienanamnese mit dem Kölner Mutismus Anamnesebogen (K-M-A) (s. Diagnostikbögen)
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5) Psychologische Interpretation
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6) Sprachdiagnostik mit der Definition des aktuellen Sprachstatus
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7) Bewertung des sozialen Kommunikationsverhaltens mit dem Mutismus-Soziogramm und dem Evaluationsbogen für das sozialinteraktive Kommunikationsverhalten bei Mutismus (E-S-K-M) (s. Diagnostikbögen)
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8) Beschreibung emotionaler Motivationskriterien
In interdisziplinären Gesprächsrunden (Modul 3) werden Personen der jeweiligen Einrichtung (Kindergarten, Schule, Wohnheime etc.) konzeptionell in die therapeutische Arbeit einbezogen und Möglichkeiten besprochen, wie Behandlungsmaßnahmen vor Ort eingeführt bzw. angewendet werden können, damit das angebahnte Sprechen im therapeutischen Setting in das soziale Lebensumfeld transferiert werden kann. Denn: Über Erfolg bzw. Misserfolg einer Therapie entscheidet nicht das Sprechen in der Praxis, sondern das Sprechen in den ehemals sozialphobisch gefürchteten Alltagssituationen!
Die Frage, ob für das betroffene Kind bzw. den schweigenden Jugendlichen eine (inkludierte) Regelschule, Förderschule oder integrative Schule die angemessene Förderung darstellt, wird in der Beratung/Elternarbeit (Modul 4) ebenso gemeinsam beantwortet wie die Umgehensweise der Eltern und Geschwister mit der/dem Schweigenden zu Hause. Wichtig ist in jedem Falle die Aufdeckung bzw. Vermeidung eines subjektiven Krankheitsgewinns, da Faktoren wie verstärkte Aufmerksamkeit in der Familie bzw. Schule, die Vermeidung von altersadäquaten Aufgaben und Pflichten sowie eine permanente Sonderstellung der Betroffenen zu einer Aufrechterhaltung des Schweigens führen und damit die Selbständigkeit der mutistischen Person, die ohnehin durch die Sprechhemmung enorm eingeschränkt ist, weiter reduzieren.
Die Mutismus-Therapie in 4 Phasen (Modul 5) ist schließlich auf die Auflockerung bzw. Überwindung des Schweigens ausgerichtet unter Einbeziehung des familiären Hintergrundes und sozialen Umfeldes des Betroffenen. Dabei wird in direktiver Form das Sprechen angebahnt. Wie an der Bezeichnung der Behandlungsphasen zu erkennen ist, wird bei der Extension der Verbalsprache die didaktische Reihenfolge Laut-, Silben-, Wort-, Satz- und Spontansprachebene berücksichtigt:
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I. Präverbale Phase.
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II. Lexikalisch-syntaktische Phase.
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III. Kommunikativ-sozialinteraktive Phase.
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IV. Nachbetreuungsphase.
Die Systemische Mutismus-Therapie/SYMUT® ist interdisziplinär ausgerichtet und versteht sich als gemeinsames Aufgabenfeld von Psychiatrie, Psychotherapie und Sprachtherapie. Aus diesen drei Fachgebieten werden diejenigen Behandlungsmaßnahmen zusammengeführt, die für den Einzelfall notwendig sind und die gefürchteten psychosozialen Konsequenzen wie
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soziale Isolation,
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gravierende Schulprobleme,
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inadäquate Schulabschlüsse und
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reduzierte Berufsperspektiven
abschwächen bzw. auflösen. Bei der Einbettung des Mutismus in eine ausgeprägte Sozialphobie und/oder Depression, in besonders therapieresistenten Fällen oder bei einer vom Kleinkindalter an bestehenden Mutismusbiographie kann eine medikamentöse Flankierung der Betroffenen vorgenommen werden. Da schwere Ängste und Depressionen häufig mit Störungen des Serotoninhaushalts (Hypokonzentrationen) im Hirnstoffwechsel verbunden sind, eignen sich besonders solche Medikamentengruppen, die speziell auf den Serotoninspiegel einwirken. Diese sind:
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selektive Serotonin Wiederaufnahmehemmer (SSRI),
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Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (SNRI) oder
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Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (NARI).
Die diesbezüglichen Wirkstoffe heißen:
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Fluoxetin, Fluvoxamin, Sertralin, Paroxetin, Citalopram, Escitalopram (SSRI-Gruppe)
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Venlafaxin, Duloxetin, Milnacipran (SNRI-Gruppe) und
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Reboxetin (NARI-Gruppe).
Der Einsatz von Antidepressiva sollte immer in einen Gesamtbehandlungsplan integriert werden. Als Vorstufe der Medicotherapie können im Kindesalter aber auch Konstitutionsmittel aus dem Bereich der Homöopathie eingesetzt werden. Hier haben sich im individuellen Einsatz Barium carbonicum, Calcium carbonicum, Johanniskraut, Lycopodium, Phosphor und Sulfur als wirkungsvoll erwiesen.
SYMUT® - die Grundprinzipien
Über die Leitgedanken Veränderung, Zuversicht, Ich-Stärkung, Antriebssteigerung und Selbstdisziplin lässt sich ein Rahmen schaffen, der es den Betroffenen ermöglicht, sich aus der Umklammerung des Mutismus und des sozialen Rückzugs zu befreien. Lebensbejahung und aktive Lebensgestaltung müssen (wieder) in den Blickpunkt der eigenen Schöpfungskraft gestellt werden. Die Mutismus-Therapie erhält damit die Aufgabe, Visionen zu erzeugen. Nur wer von positiv besetzten Zielen getragen wird, ist in der Lage, Zukunft zu gestalten. Unter die Rolle des Verzagten, Antriebslosen – des Sonderlings – muss ein Schlussstrich gezogen werden. Der Blick geht nach vorn. Ein Neuanfang muss her. Und er ist möglich, wie die Lebensläufe im Buch "Gesichter des Schweigens – Die Systemische Mutismus-Therapie/SYMUT als Therapiealternative" zeigen. Die Therapeuten sind gefordert, durch die Vermittlung von Zuversicht eine Initialzündung herbeizuführen und diesen Spannungsbogen nicht abreißen zu lassen. Die Betroffenen können ihrerseits die Prognose aktiv verbessern, wenn sie "den Ball annehmen" und sich für eine Veränderung ihrer Situation entflammen lassen. Der Glaube versetzt bekanntlich Berge. Selbstüberzeugung und damit Ich-Stärke werden zur zentralen Kategorie eines positiven Behandlungsverlaufs.
Zusammenfassend lassen sich die therapeutischen Grundprinzipien, über die eine psychosoziale Öffnung der Schweigenden angestrebt wird, folgendermaßen darstellen:
Die Neuausrichtung der Lebensgestaltung geht jedoch nicht nur von den Behandlern und den Schweigern aus. Allen am Therapieprozess Beteiligten kommt die Aufgabe zu, Zukunftsperspektiven für eine selbstbestimmte soziale Teilhabe und Unabhängigkeit zu schaffen und durch fachliche wie personale Kompetenz der Gefährdung entgegenzutreten, Mutismus und die von Mutismus Betroffenen durch unspezifische Betreuungsmuster nur zu "verwalten". Dieser Anspruch wird durch die Tatsache, dass Mutismus im frühen Kindesalter beginnt und tiefgreifende Konsequenzen für die gesamtpersonale Entwicklung haben kann, zu einer disziplinübergreifenden Handlungsmaxime. Denn: Jeder Mensch hat ein Recht auf Zukunft, auch der vom Mutismus betroffene.

Abb. 2: Therapeutische Grundprinzipien der Konzeption SYMUT®
SYMUT® - weitere Literatur
Die Internetdarstellung der verschiedenen Therapiemodule verweist nur auf eine Skizzierung der Behandlungskonzeption für das Schweigen bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen. Komplexe Hintergrundinformationen können sowohl der folgenden Literatur (s. Publikationen und Online-Shop)
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Hartmann, B. (2004): Die Behandlung eines (s)elektiv mutistischen Mädchens nach dem Konzept der Systemischen Mutismus-Therapie/SYMUT – Teil 1. Forum Logopädie 18/1, 20-26.
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Hartmann, B. (2004): Die Behandlung eines (s)elektiv mutistischen Mädchens nach dem Konzept der Systemischen Mutismus-Therapie/SYMUT – Teil 2. Forum Logopädie 18/2, 30-35.
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Hartmann, B. (2007): Systemische Mutismus-Therapie. Grohnfeldt, M. (Hrsg.): Lexikon der Sprachtherapie. Stuttgart: Kohlhammer.
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Hartmann, B. (Hrsg.) (52019): Gesichter des Schweigens - Die Systemische Mutismus-Therapie/SYMUT® als Therapiealternative. Idstein: Schulz-Kirchner.
als auch den jeweiligen Fortbildungsveranstaltungen entnommen werden (s. Fortbildungen).
3 Diagnostikbögen (Screenings) für Mutismus
Dies ist ein Non-Profit-Angebot aus dem Gesundheitswesen. Laden Sie sich kostenfrei die Diagnostikbögen des Instituts herunter. Wenn Sie einen in der Mutismus-Sprechstunde vereinbarten Termin für die Intensivberatung am Dienstag wahrnehmen, bringen Sie bitte die Screenings E-S-K-M und Mutismus-Soziogramm ausgefüllt mit. Der K-M-A wird in einem persönlichen Gespräch durchgeführt.
Der K-M-A wurde entwickelt, um Risikofaktoren bei den Familienangehörigen und den Betroffenen zu dokumentieren, die für die Entstehung einer mutistischen Symptomatik relevant sein können. Die Familienanamnese (Teil 1) erfasst die mütterliche und die väterliche Linie getrennt. In der Patientenanamnese (Teil 2) wird die persönliche Entwicklung beschrieben. Bitte beachten Sie, dass bei einigen Fragen Mehrfachantworten möglich sind.
Hinweis: Kreuzen Sie bitte jeweils das Verhalten an, das überwiegt. Zählen Sie die Punktwerte zusammen und tragen Sie die Summe unter "Erstevaluation" ein. Bei der Auszählung der numerischen Auswertung und der Berücksichtigung einer Minimum-Maximum-Verteilung von 0 - 46 Punkten gilt, je höher die Gesamtpunktzahl, desto ausgeprägter ist die mutistische Symptomatik.
Hinweis: Die Punkteverteilung umfasst die Werte 0, 0-1 und 1. Schreiben Sie bitte unten jede Person einzeln hin, mit der völlig frei gesprochen wird. Dann beginnen Sie oben mit dem ersten Oval in der Mitte und gehen im Uhrzeigersinn weiter. Sie bewerten folgende Personen bzw. Personengruppen: Großeltern väterlicher- und mütterlicherseits, weitere Verwandte, Erzieherinnen oder Lehrer, Kinder in der Kindergarten-Gruppe oder Mitschüler der Klasse, Nachbarn/Erwachsene, Nachbarn/Gleichaltrige, Freizeitgruppe (z.B. Turnen), Ärzte sowie Therapeuten und schließlich Verkäuferinnen und Fremde. Tritt im Kontakt ein Schweigen auf, geben Sie eine 0. Erfolgen kurze Antworten, geben Sie eine 1. Ist das Verhalten wechselhaft, bewerten Sie mit 0-1.
Bitte ausdrucken und als Vorlage verwenden. Nicht in diesen Bogen schreiben. Ist nur ein Beispiel.
The C-M-A was developed to identify risk factors in family members and persons concerned, which can be relevant for the development of mutistic symptoms. The family history (Part 1) records the maternal and the paternal line separately. In the patient history (Part 2) the personal development is described. Please note that some questions allow for multiple answers.
Please tick the behavior that prevails. Add the scores and enter the sum under "first evaluation". When counting the numerical evaluation and taking into account a minimum-maximum distribution of 0 to 46 points, the higher the total score the more pronounced is the mutistic symptomatology.
Fortbildungen, Mutismus-Tagung und LV 2025
Um sich anzumelden und einen Teilnehmerplatz reservieren zu lassen, klicken Sie bitte den jeweiligen Veranstalter an. Sie werden dann umgehend weitergeleitet.
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27./28. Juni 2025: Online "Mutismus - ein Leben in Angst? Die Systemische Mutismus-Therapie (SYMUT®) als interdisziplinäre Behandlungsform".
Veranstalter: Loguan
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27. September 2025: 21. Mutismus-Tagung in Erfurt
Veranstalter: Mutismus Selbsthilfe Deutschland e.V
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3./4. Oktober 2025: Lehrveranstaltung der Universität Fribourg/CH. Departement für Sonderpädagogik, Abteilung Logopädie. "Mutismus und Mutismus-Therapie". Gasthörer sind wie immer möglich, wenden sich bitte aber vorher an Herrn Prof. Erich Hartmann.
Auf der Seite SYMUT® finden Sie die Darstellung des systemischen Menschenbildes und der fünf Behandlungsmodule. Die wissenschaftliche Grundlegung des interdisziplinären Therapieansatzes entnehmen Sie bitte folgenden Publikationen:
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Hartmann, B. (2023): Manipulation als intrafamiliärer Belastungsfaktor bei Mutismus: Wer hilft eigentlich den Eltern? Mutismus.de 14/28, 13-22.
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Hartmann, B. (2023): Mutismus und Schule - Grundlagen, Empfehlungen und Strategien für den Umgang mit schweigenden Schülern. 4. Auflage. Mutismus.de 12/22, 5-28.
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Hartmann, B. (Hrsg.) (2019): Gesichter des Schweigens - Die Systemische Mutismus-Therapie/SYMUT® als Therapiealternative. 5. überarbeitete und umfangreich ergänzte Auflage. Idstein: Schulz-Kirchner.
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Hartmann, B. (2018): Der innere Konflikt - Interventionstabus und die Folgen für die Mutismus-Therapie. Mutismus.de 10/19, 9-15.
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Hartmann, B. (2017): Das Diathese-Stress-Modell in der Mutismus-Therapie - Ein Ansatz auf dem Prüfstand aktueller Sichtweisen. Mutismus.de 9/18, 4-12.
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Hartmann, B. (2016): Kölner Mutismus Anamnesebogen (K-M-A). Praxis Sprache 3/16, 200-205.
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Hartmann, B. (2015): Wer schwimmen lernen will, muss ins Wasser - Veränderungsbereitschaft im Kontext gesellschaftlicher Einflüsse. Mutismus.de 7/13, 14-25.
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Hartmann, B. (2014): Mutismus. In: Grohnfeldt, M. (Hrsg.): Grundwissen der Sprachheilpädagogik und Sprachtherapie. Stuttgart: Kohlhammer.
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Hartmann, B. (2007): Systemische Mutismus-Therapie. Grohnfeldt, M. (Hrsg.): Lexikon der Sprachtherapie. Stuttgart: Kohlhammer.
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Hartmann, B. (2004): Die Behandlung eines (s)elektiv mutistischen Mädchens nach dem Konzept der Systemischen Mutismus-Therapie/SYMUT. Teil 2. Forum Logopädie 18/2, 30-35.
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Hartmann, B. (2004): Die Behandlung eines (s)elektiv mutistischen Mädchens nach dem Konzept der Systemischen Mutismus-Therapie/SYMUT – Teil 1. Forum Logopädie 18/1, 20-26.
Wer schwimmen lernen will, muss ins Wasser – Veränderungsbereitschaft im Kontext gesellschaftlicher Einflüsse
Bei der Behandlung von überwindbaren Störungsbildern, zu denen auch der Mutismus gehört, ist neben der Anwendung einer störungsspezifischen Behandlungskonzeption, der Erfassung der individuellen Persönlichkeitsparameter des Betroffenen und der Reduktion der aufrechterhaltenden Strukturen aus dem unmittelbaren Umfeld vor allem ein Faktor essenziell: die Motivation oder Veränderungsbereitschaft des Menschen selbst.
Die Motivation des Einzelnen unterliegt dabei nicht nur der eigenen Steuerungsfähigkeit und den unbewussten Anreizen für ein Verhalten, sondern auch und vor allem einer Beeinflussung durch seine Mitmenschen, die wiederum Bestandteil übergeordneter Gesellschaftsstrukturen sind. Gesellschaften aber verändern sich. Stetig. In der Regel durch die jeweiligen politischen und wirtschaftlichen Systeme, die ihrerseits, erst recht zu Beginn des 21. Jahrhunderts, global vernetzt sind. Aber auch Zeitgeistströmungen hinterlassen ihre Spuren. In der Mode. In der Musik. In der Ethik. Im Habitus. Es wird aufgezeigt, dass die Maxime der Akzeptanz von Störungen – einem wichtigen Merkmal des demokratischen und toleranten Lebensstils – bei der Überwindung von Entwicklungshemmnissen auch Schattenseiten haben kann.
(...) Motivation, Veränderungsbereitschaft, Anstrengung oder "üben, üben, üben", wie von McHolm et al. (2005) für die Überwindung des Mutismus gefordert, klingen wie Vokabeln aus einer anderen Zeit. Dabei waren und sind diese Faktoren für den Anstieg von Leistungszuwächsen zu jeder Zeit gültig. Gestern, heute, morgen. Sie sind auch nicht auf bestimmte Kulturen, Epochen oder Wohlstandsstufen einer Gesellschaft beschränkt, sondern universell und ständiger Begleiter in der Entwicklung des Menschen.
Haben wir verlernt, uns anzustrengen?
Wer schwimmen lernen will, muss ins Wasser. Das war einmal Konsens, auch im übertragenen Sinn. Den Unterschied zu heute stellen die folgenden beiden Abbildungen dar:
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Abb. 2: learning by doing
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Abb. 3: doing without learning.

Abb. 2: Schwimmen lernen 1970. Learning by doing (Brunner & Hartmann 2015)

Abb. 3: Schwimmen lernen heute. Doing without learning
(Brunner & Hartmann 2015)
Wir können, wie bei der Abbildung 3, links unten, die motorischen Abläufe der Schwimmbewegungen in der Physiotherapie üben lassen. Auch Powerpoint-Präsentationen, folgt man im Uhrzeigersinn, zum Thema "Die Unterwasserwelt" sind möglich, wenngleich vielleicht auch nicht für jeden Zuschauer gleichsam unterhaltsam, wie man sieht. Dagegen ist der Besuch des Aquariums geradezu abenteuerpädagogisch ausgerichtet. Und natürlich: Die Eltern sollten über die Risiken des Schwimmunterrichts und überhaupt des Aufenthalts im kühlen Nass juristisch aufgeklärt werden.
Nur eines lernt man auf diese Weise mit Sicherheit nicht: schwimmen!
Fazit
Bei Mutismus stellt die Akzeptanz den ethischen Rahmen dar, in dem sich Betroffene und Helfende, Patienten und Therapeuten, Schüler und Lehrer bewegen. Sie ist jedoch keine Behandlungsstrategie. Erst recht kein Selbstzweck. Akzeptanz befreit auch nicht von der drohenden Unmündigkeit des von Mutismus Betroffenen und kann sogar zu ihrer Beschleunigung beitragen. Der Ausgang aus dem Entwicklungsstillstand Schweigen führt über zielgerichtetes Handeln, genauer: Sprechen. Eine ehrliche Debatte erscheint hier überfällig.
Wir können uns heute glücklich schätzen, mehr über die Hintergründe dieser komplexen Angst- und Kommunikationsstörung zu wissen. Mutismusspezifische Konzeptionen und erfreuliche Therapieerfolge erzeugen mittlerweile sowohl bei den Betroffenen als auch bei den Behandlern einen zuversichtlichen Blick nach vorn, den es bis in die 1990er Jahre hinein in der jetzigen Qualität nicht gab. Allerdings gibt es keinen Anlass, die Hände in den Schoß zu legen, zufrieden mit sich selbst oder mit Teilerfolgen zu sein und den großen Wurf nicht zu wagen, Betroffenen das Sprechen unabhängig von Person und Situation zu ermöglichen.
Hier gilt: Das Ziel ist das Ziel. Klingt ungewohnt, nicht wahr? Hieß es bisher nicht immer, der Weg sei das Ziel? Was für transzendentale Prozesse sicher richtig ist, trifft bei Störungsbildern oft nicht den Kern. Es wird Zeit, dass wir umdenken und uns weiterentwickeln.
Wir haben uns schon viel zu lange nur mit dem Weg abgefunden.
Aus:
Hartmann, B. (2015): Wer schwimmen lernen will, muss ins Wasser - Veränderungsbereitschaft im Kontext gesellschaftlicher Einflüsse. Mutismus.de 7/13, 14-25.
In Heft 13 der Fachzeitschrift Mutismus.de finden Sie den kompletten Artikel "Wer schwimmen will, muss ins Wasser - Veränderungsbereitschaft im Kontext gesellschaftlicher Einflüsse."
Ist ein Nachteilsausgleich oder eine Unterrichtsassistenz bei Mutismus in der Schule wirklich sinnvoll?
In Artikel 3, Absatz 3 des Grundgesetzes heißt es: "Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden". Aus diesem Grundverständnis heraus werden im Arbeits- und Sozialrecht Möglichkeiten besonderer Schutzregelungen beschrieben, die im Betriebsverfassungsrecht bzw. Sozialgesetzbuch vorgegeben sind. Der Nachteilsausgleich für Schüler wird in Deutschland nach § 126 SGB IX entschieden. Danach können individuell angepasste kompensatorische Hilfen in Form von Notenanhebungen und größeren Zeitkontingenten bei Klausuren realisiert werden, wenn durch die vorliegende Einschränkung Nachteile oder Mehraufwendungen entstehen. Gängige Indikationen sind Hörminderungen, körperliche und kognitive Behinderungen, aber auch Störungen beim Lesen, Schreiben und Rechnen. Das Gestaltungsrecht in der Beantragung und Gewährung des Nachteilsausgleichs liegt in den meisten Bundesländern bei der Bezirksregierung.
Neben einer Notenkompensation wird bei mutistischen Schülern in Einzelfällen eine Unterrichtsassistenz diskutiert. Bei der Unterrichtsassistenz nach SGB VIII, KJHG §35a Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche, werden sprechgehemmte Schüler durch Studierende der Heilpädagogik einer ortsnahen Universität oder durch Einsatzkräfte der Familienhilfe während des gesamten Schultages flankiert.
Sowohl der Nachteilsausgleich als auch die Unterrichtsassistenz sind gut gedachte Hilfestellungen, um Schülern mit einer Teilleistungsstörung oder einem körperlichen und/oder kognitiven Handicap eine Brücke für eine begabungsadäquate Leistungsentfaltung zu bauen. Ist aber eine derartige Sonderbehandlung auch bei Mutismus, der zu den überwindbaren Störungsbildern gehört, sinnvoll? Kann ein Nachteilsausgleich in diesem Fall nicht einen Nachteil generieren? Grundlage für einen erfolgreichen Behandlungsprozess ist die ungebrochene Motivation für eine Modifikation des Ist-Zustandes, der Glaube an sich selbst. Therapie bedeutet Veränderung! Ist so aber Veränderung möglich?
Wie verhält es sich mit der zweiten Kompensationsstrategie, der Unterrichtsassistenz? Eliminiert sie als Hilfe zur Selbsthilfe nicht geradezu Letzteres, indem sie aufrechterhaltende Sonderstellungen gewährt, die letztendlich die Grundlage für den subjektiven Krankheitsgewinn darstellen und zur Therapieresistenz führen? Sonderstellungen erzeugen Scheinrealitäten, gaukeln den Betroffenen vor: Das ist das wahre Leben. Es entstehen Gewöhnungseffekte, die das installierte Gipsbein zum besseren Bein werden lassen (s. auch die Gipsbein-Paradoxie in der Mutismus-Therapie, vgl. Hartmann 2010). Irgendwann aber ist die Schulzeit vorbei. Und dann? Stellt man anschließend den Antrag auf eine Lebensassistenz?
Schulzeit ist Entwicklungszeit: Mutismus im Unterrichtskontext - was kann die Schule tun? Leitlinien für den Unterricht.
In Heft 22 der Fachzeitschrift Mutismus.de, dem Sonderheft V Mutismus und Schule, finden Eltern, Lehrer und Therapeuten ausführliche Antworten auf alle schulrelevanten Fragen. Sie können das Heft bestellen, indem Sie auf das Titelbild klicken.
Für Angehörige wurde darüber hinaus das Sonderheft IV Mutismus und Elternarbeit, Heft19, entwickelt, das die besondere Lebenssituation von Familien mit schweigenden Töchtern und Söhnen beschreibt und Strategien aufzeigt, wie die Eltern mit einer veränderten Akzentuierung ihres Erziehungsverhaltens die Weichen Richtung kommunikative Öffnung des Kindes bzw. Jugendlichen selbst stellen können: