Was ist Mutismus?
Für die Behandlung des Mutismus im Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalter gilt heute folgender Grundsatz: "Während früher eine traumatische Genese vermutet wurde, geht man heutzutage eher von einer multifaktoriellen Entstehung mit genetischen, psychologischen und sprachassoziierten Einflüssen aus. Psychotherapie, Logopädie und Psychopharmakotherapie stellen die Säulen der Therapie dar" (Rogoll et al. 2018, 591)1. Doch was ist Mutismus überhaupt? Folgende Fragen stehen am Anfang:
Weshalb spricht ein Mensch nicht, obwohl er sprechen kann? Welche Inhibitionsmechanismen greifen beim partiellen bzw. totalen Mutismus ineinander, so dass das Kind, der Jugendliche oder Erwachsene seinen angeboren Trieb, sich verbalsprachlich mit seiner Umwelt auseinandersetzen, mit ihr in Kontakt treten, sich selbst mitteilen zu wollen, nicht mehr anwenden kann, ihn nur noch in gedämpfter Form oder z.T. auch gar nicht mehr verspürt bzw. durch nonverbale Ersatzstrategien kompensiert?
Die Beschäftigung mit diesen Fragestellungen lässt schnell deutlich werden, dass der elektive bzw. selektive oder totale Mutismus im Kindes-, Jugend- oder Erwachsenenalter im Schnittpunkt medizinisch-psychiatrischer, psychologischer und sprachtherapeutisch-logopädischer Sichtweisen und Erklärungsansätze liegt und damit in den meisten Fällen einer interdisziplinären Fokussierung und Betreuung bedarf. Die Sprachtherapie bzw. Logopädie erweist sich hier als Bindeglied zwischen den genannten Disziplinen, nicht zuletzt dadurch, dass sich das Schweigen häufig in Kombination mit Sprachstörungen (33% - 51,9% s. empirische Befunde) oder Bilingualismus-Problemfeldern (21,4% ebenda) zeigt und über die kommunikative Kompetenz hinaus der wiederkehrende Wunsch und Antrieb, Sprechen als etwas Wertvolles und als soziales Instrument zu begreifen, zentrales Anliegen sprachtherapeutischen Bemühens ist.
Der Terminus "elektiver Mutismus" wurde vom Schweizer Kinder- und Jugendpsychiater Moritz Tramer (1934) eingeführt und fand internationale Verbreitung. Er wurde 1994 durch den Begriff "selektiver Mutismus" ergänzt (DSM-IV). In der ICD-10-GM der WHO findet sich unter F94.0 die Bezeichnung "elektiver Mutismus". Die am 1. Januar 2022 in Kraft getretene neue ICD-11 verweist auf die Diagnose "selektiver Mutismus" (6B06) und ordnet sie den "Angst- oder furchtbezogenen Störungen" (6B0) zu. Die Termini "elektiver Mutismus" bzw. "selektiver Mutismus" beschreiben ein und dasselbe Störungsbild.
In der angloamerikanischen Literatur wird in der Regel die Bezeichnung "selektiver Mutismus" des DSM-5 (APA 2013, deutsche Version 2015) mit der gleichen Codierung F94.0 wie in der ICD-10-GM verwendet. In deutschsprachigen nicht medizinischen Beiträgen wird in Abgrenzung zur Medizin ebenfalls mehrheitlich vom selektiven Mutismus gesprochen. Der Tradition der medizinischen Literatur folgend verwenden Ärzte im deutschsprachigen Raum häufiger den Terminus "elektiver Mutismus" (s. auch Praxis-Software der verordnenden Ärzte unter F94.0). Die Bevorzugung des einen oder anderen Begriffs lässt sich eher auf ideologisch bedingte Abgrenzungswünsche zurückführen als auf inhaltlich-fachliche Unterscheidungskriterien.
Ausschlusskriterien nach der ICD-11 sind:
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Schizophrenie (6A20)
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Autismus-Spektrum-Störung (6A02)
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Vorübergehender Mutismus als Teil von Trennungsangst bei jungen Kindern (6B05).
Achtung: Nicht jede Sprechhemmung entspricht einem Mutismus. Beispiel: Schüler, die sich im Unterrichtskontext nicht melden, aber auf jede Frage von Lehrkräften antworten, wenn sie die Antwort wissen, sind sprechgehemmt, aber nicht mutistisch. Das Kardinalsymptom ist ein andauerndes, hartnäckiges Schweigen, das in der Regel mit einer fehlenden Blickfixierung einhergeht.
Wissenschaftlich lässt sich der Mutismus folgendermaßen definieren:
(S)elektiver Mutismus
Der (s)elektive Mutismus ist eine nach vollzogenem Spracherwerb erfolgende Hemmung der Lautsprache gegenüber einem bestimmten Personenkreis. Die Hör- und Sprechfähigkeit ist erhalten, d.h. es liegen keine peripher-impressiven oder peripher-expressiven organischen Störungen vor sowie keine zentralen Schädigungen der am Sprechvorgang beteiligten Sprachzentren und der Innervation. Eine direkte Ursache ist nicht bekannt. Es kommen hier sowohl
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psychologische Faktoren (abweichende Problemlösungsmechanismen, Konditionierungsprozesse und Milieueinflüsse) als auch
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physiologische Faktoren (familiäre Dispositionen, Hypokonzentration des Neurotransmitters Serotonin im Hirnstoffwechsel, Hyperfunktion der Amygdala, psychiatrische Grunderkrankungen, Entwicklungsstörungen) in Frage, die zumeist in einer
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gegenseitigen Ergänzung (z.B. Diathese-Stress-Konfigurationen) zur Sprechverweigerung führen.
Totaler Mutismus
Der totale Mutismus ist eine nach vollzogenem Spracherwerb erfolgende völlige Hemmung der Lautsprache bei erhaltenem Hör- und Sprechvermögen, d.h. es liegen keine peripher-impressiven oder peripher-expressiven organischen Störungen vor sowie keine zentralen Schädigungen der am Sprechvorgang beteiligten Sprachzentren und der Innervation. Eine direkte Ursache ist nicht bekannt. Es kommen sowohl
-
psychologische Faktoren (abweichende Problemlösungsmechanismen, Konditionierungsprozesse und Milieueinflüsse) als auch
-
physiologische Faktoren (familiäre Dispositionen, Hypokonzentration des Neurotransmitters Serotonin im Hirnstoffwechsel, Hyperfunktion der Amygdala, psychiatrische Grunderkrankungen, Entwicklungsstörungen) in Frage, die zumeist in einer
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gegenseitigen Ergänzung (z.B. Diathese-Stress-Konfigurationen) zur Sprechverweigerung führen.
(S)elektiver Mutismus vs. akinetischer Mutismus
Der totale Mutismus ist eine nach vollzogenem Spracherwerb erfolgende völlige Hemmung der Lautsprache bei erhaltenem Hör- und Sprechvermögen, d.h. es liegen keine peripher-impressiven oder peripher-expressiven organischen Störungen vor sowie keine zentralen Schädigungen der am Sprechvorgang beteiligten Sprachzentren und der Innervation. Eine direkte Ursache ist nicht bekannt. Es kommen sowohl
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psychologische Faktoren (abweichende Problemlösungsmechanismen, Konditionierungsprozesse und Milieueinflüsse) als auch
-
physiologische Faktoren (familiäre Dispositionen, Hypokonzentration des Neurotransmitters Serotonin im Hirnstoffwechsel, Hyperfunktion der Amygdala, psychiatrische Grunderkrankungen, Entwicklungsstörungen) in Frage, die zumeist in einer
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gegenseitigen Ergänzung (z.B. Diathese-Stress-Konfigurationen) zur Sprechverweigerung führen.

Empirische Befunde
Epidemiologie
Der Mutismus wird im DSM-5 (2013 OV, 2015 deutsche Übersetzung) unter die Angststörungen subsumiert und nicht mehr, wie beim DSM-IV, unter die Störungen sozialer Funktionen mit Beginn in der Kindheit und Jugend. Code: F94.0 analog zur ICD-10-GM. In der am 1. Januar 2022 in Kraft getretenen ICD-11 wird die Diagnose "selektiver Mutismus" (6B06) neu codiert.
Einige Medienbeiträge der Laienpresse verweisen bei der Krankheitshäufigkeit auf die Bandbreite 1-7 von 1.000 Kindern . Das entspricht einer Prävalenzrate von 0,1%-0,7%. Diese Zahlen sind jedoch nicht gesichert. Die Studien zur Prävalenzrate sind bisher stark abweichend und reichen von
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Goodman, Scott & Rothenberger (2007): 0,02%-0,05% über
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Kopp & Gillberg (1997): 0,18% bis
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Kumpulainen et al. (1998): 2,0%.
Im DSM-5 (2015, 265) heißt es: "Selektiver Mutismus ist eine relativ seltene Störung und wurde als diagnostische Kategorie in bevölkerungsepidemiologischen Studien zur Prävalenz von Störungen des Kindesalters bisher nicht berücksichtigt. Schätzungen der Punktprävalenz in verschiedenen klinischen oder schulischen Stichproben gehen von Werten zwischen 0,03% und 1% aus."
Literatur
American Psychiatric Association (2015): Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen - DSM-5. Deutsche Ausgabe herausgegeben von Peter Falkai und Hans-Ulrich Wittchen. Göttingen: Hogrefe.
Goodman, R., Scott, S. & Rothenberger, A. (2007): Kinderpsychiatrie kompakt (2. Auflage). Darmstadt: Steinkopff.
Kopp, S. & Gillberg, C. (1997): Selective mutism: A population-based study: A research note. Journal of Child Psychology and Psychiatry and allied Disciplines, 38/2, 257–262.
Kumpulainen, K., Räsänen, E., Raaska, H. & Somppi, V. (1998): Selective mutism among second-graders in elementary school. European Child and Adolescent Psychiatry 7/1, 24–29.
Geschlechtliche Prävalenz
Auch die geschlechtliche Prävalenz ist nicht eindeutig. Bahr (2006) kommt in seiner Übersicht von 276 in der Literatur erfassten Fällen (12 Studien) auf ein Verhältnis von 1,6:1 (170 w:106 m). Hierbei lassen sich Angaben ergänzen.
Zählt man die Untersuchungen von
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Spieler (1940) mit einer personellen Geschlechterverteilung von 23:30 (n=53)
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Brumetz (1979) von 2:49 (n=51)
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Altshuler, Cummings & Mills (1986) von 2:20 (n=22)
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Steinhausen & Juzi (1996) von 62:38 (n=100)
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Dummit et al. (1997) von 36:14 (n=50) und
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Chavira et al. (2007) von 44:26 (n=70) hinzu, so ergibt sich ein anderes Bild:
Die Metaanalyse von 622 schweigenden Personen (18 Studien, vgl. Hartmann 2014) umfasst 339 weibliche und 283 männliche Betroffene, was einem Verhältnis von 1,2:1 und damit einer annähernd gleichen Häufigkeit bei beiden Geschlechtern entspricht (s. auch ICD-10-GM, 2010, und DSM-5, 2015).
"Die Prävalenz der Störung scheint sich zwischen Geschlechtern und ethnischen Gruppen nicht zu unterscheiden" (DSM-5, 2015, 265).
Literatur
Altshuler, L. L., Cummings, J. L. & Mills, M. J. (1986): Mutism: review, differential diagnosis, and report of 22 cases. American Journal of Psychiatry, 143/11, 1409–1414.
American Psychiatric Association (2015): Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen - DSM-5. Deutsche Ausgabe herausgegeben von Peter Falkai und Hans-Ulrich Wittchen. Göttingen: Hogrefe.
Bahr, R. (2006): Schweigende Kinder verstehen – Kommunikation und Bewältigung beim selektiven Mutismus (4. Auflage). Heidelberg: C. Winter.
Brumetz, H. (1979): Das Problem des Mutismus in älterer und neuerer Literatur. Der Sprachheilpädagoge 11/ 3, 1–7.
Chavira, D. A., Shipon-Blum, E., Hitchcock, C., Cohan, S. & Stein, M. B. (2007): Selective Mutism and Social Anxiety Disorder: All in the Family? Journal of the American Academy of Child and Adolescent Psychiatry 46/11, 1464–1472.
Dummit, E. S., Klein, R. G., Tancer, N. K., Asche, B., Martin, J. & Fairbanks, J. A. (1997): Systematic assessment of 50 children with selective mutism. Journal of the American Academy of Child and Adolescent Psychiatry 36, 653–660.
Hartmann, B. (2014): Mutismus. In: Grohnfeldt, M. (Hrsg.): Grundwissen der Sprachheilpädagogik und Sprachtherapie. Stuttgart: Kohlhammer.
Spieler, J. (1944): Schweigende und sprachscheue Kinder. Olten: Otto Walter.
Steinhausen, H. C. & Juzi, C. (1996): Elective mutism: An analysis of 100 cases. Journal of the American Academy of Child and Adolescent Psychiatry 35/5, 606–614.
Weltgesundheitsorganisation (2010): Internationale Klassifikation psychischer Störungen, ICD-10, Kapitel V (F) Klinisch-diagnostische Leitlinien. Übersetzt und herausgegeben: Dilling, H., Mombour, W. & Schmidt, M. H. (Hrsg.) unter Mitarbeit von Schulte-Markwort, E. und unter Berücksichtigung der Änderungen entsprechend ICD-10-GM (7. Auflage). Bern: Hans Huber, Hogrefe AG.
Sprach- und Sprechstörungen bei Mutismus
Sprach- und Sprechstörungen können mit dem Mutismus verbunden sein. Angaben hierzu weichen jedoch ebenfalls deutlich voneinander ab:
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Remschmidt et al. (2001): 33%
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Steinhausen & Juzi (1996): 38%
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Isensee, Haselbacher & Ruoß (1997): 50%
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Kristensen (2000): 51,9%
Darüber hinaus lässt sich eine Querverbindung zu sprachlichen Anpassungsstörungen bei Migrantenfamilien aufzeigen: 21,4% der untersuchten Kinder sind bilingual (vgl. Isensee et al. 1997). Sprachliche Problemfelder werden als komorbide Faktoren bewertet.
Literatur
Isensee, B., Haselbacher, A. & Ruoß, M. (1997): Elektiver Mutismus: Ein Überblick zu Therapie und Praxis. Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie 25, 247–262.
Kristensen, H. (2000): Selective mutism and comorbidity with developmental disorders/delay, anxiety disorder, and elimination disorder. Journal of the American Academy of Child and Adolescent Psychiatry 39, 249–256.
Remschmidt, H., Poller, M., Herpertz-Dahlmann, B., Henninghausen, K. & Gutenbrunner, C. (2001): A follow-up study of 45 patients with elective mutism. European Archives of Psychiatry and Clinical Neurosciences 251/6, 284–296.
Steinhausen, H. C. & Juzi, C. (1996): Elective mutism: An analysis of 100 cases. Journal of the American Academy of Child and Adolescent Psychiatry 35/5, 606–614.
Genetische Dispositionen bei Mutismus
Untersuchungen von Familienanamnesen verweisen auf ein gehäuftes Vorkommen der Merkmale gehemmtes Temperament, Angst und/oder Depression. So lassen sich bei Verwandten ersten Grades folgende Vorbelastungen finden:
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Black & Uhde (1995): soziale Angststörungen (70%)
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Steinhausen & Adamek (1997): Schweigsamkeit auf mindestens einer Elternlinie (23,7%)
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Kristensen (2000): ausgeprägte Schüchternheit (72,2%)
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Kristensen & Torgersen (2001): Sozialphobie/Schüchternheit auf mind. einer Elternlinie (70,4%)
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Dobslaff (2005): gehemmte bis mutistische Züge (52,2%)
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Chavira et al. (2007): Sozialphobie (37%) und Depressionen (29%)
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Hartmann (2010, 2011): stilles/gehemmtes Naturell auf mind. einer Elternlinie (95,8%) und Ängste/Depressionen auf mind. einer Elternlinie (74,79%)
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Smith/Sluckin (2015): Schüchternheit in der Familie (88,67%)
Das bedeutet, dass beim Mutismus in der Regel von einer genetischen/dispositionellen Vorbelastung (Diathese) auszugehen ist. "In conclusion, this first, extended family history study of a considerable series of children with elective mutism revealed some evidence that genetic factors may play a significant role in the etiology of this rare disorder in childhood” (Steinhausen & Adamek 1997, S. 111).
Parallelen zu den Ergebnissen der Angstforschung werden deutlich. So konnte die Metaanalyse von Hettema, Neale & Kendler (2001) aufzeigen, dass der Einfluss genetischer Faktoren bei Angststörungen z.T. erheblich ist. In der direkten Verwandtschaft lag die Erblichkeit bei
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der Panikstörung bei 47,8%
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der generalisierten Angststörung bei 31,6%
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den Phobien bei 52,3% und
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den Zwangsstörungen (OCD/obsessive-compulsive disorder) bei 25,1%
"The major source of familial risk is genetic" (Hettema et al. 2001, 1573).
"Aufgrund der signifikanten Überlappung zwischen Selektivem Mutismus und Sozialer Angststörung könnte es gemeinsame genetische Faktoren für beide Störungen geben" (DSM-5, 2015, 266).
Bei der Interpretation des ontogenetischen Hintergrundes des partiellen oder totalen Schweigens ergibt sich die Kardinalfrage, weshalb gerade eine mutistische Symptomatik entstanden ist, d.h. warum das Kind, der Jugendliche bzw. Erwachsene entwicklungsbedingt oder als Reaktion auf ein seelisches Trauma nicht z.B. ausschließlich eine Stottersymptomatik, plötzliches Einnässen, Einkoten, (auto-)aggressive Verhaltensstrukturen oder andere Abweichungsmuster zeigt. Warum reagiert der Betroffene ausgerechnet mit dem Schweigen? Eine Antwort auf diese Frage scheint die bei mutistischen Menschen nachweisbare Häufung von introvertierten, sozial zurückgezogenen, kommunikativ gehemmten Verwandten zu sein, die - generationsübergreifend - eine familiäre Disposition für den Mutismus deutlich macht. Der Mutismus wird heute zu den Angststörungen gezählt (s. DSM-5, 2015). "Außerdem erhalten Kinder mit Selektivem Mutismus im klinischen Rahmen fast immer zusätzlich die Diagnose einer anderen Angststörung, am häufigsten die Diagnose einer Sozialen Angststörung (Sozialen Phobie)" (DSM-5, 2015, 265). "Comorbid conditions are prevalent, especially other anxiety disorders and neurodevelopmental disorders, and it is important to assess the child for these" (Oerbeck et al. 2016, 18). Zusätzlich sind Querverbindungen zur Depression, hier vermehrt ab dem Jugendalter, möglich. Das Sprechen und der mit ihm verbundene Antrieb für kommunikative Interaktionen zeigt sich als locus minoris resistentiae, der schon bei geringen psychischen Belastungen mit Auffälligkeiten gerade im sozial-kommunikativen Bereich reagiert.
In der aktuellen Mutismus-Forschung rücken zwei weitere organische Faktoren in den Vordergrund:
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Zum einen wird das angstbedingte Schweigen, analog zu Depressionen und Ängsten, auf eine Hypokonzentration (Unterversorgung) des Neurotransmitters Serotonin im Hirnstoffwechsel zurückgeführt.
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Zum anderen werden heute Angststörungen aller Art mit einer Hyperreaktion (Übererregung) der Amygdala (Mandelkern), unserem Angstzentrum im limbischen System, in Verbindung gebracht.
Zusammen mit der Disposition liegen damit aktuell drei organische Erklärungsmodelle für den Mutismus im Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalter vor. Eine alleinige psychische Verursachung des Schweigens (Ausnahme: totaler Mutismus in Verbindung mit einem Trauma) oder gar die Ausblendung medizinischer Faktoren gehören damit der Vergangenheit an und entsprechen nicht mehr dem aktuellen Forschungsstand. Das bedeutet, dass für den (s)elektiven Mutismus eine Diathese beim Betroffenen angenommen werden kann.
Den Aspekt der Diathese greift auch der Forschungszweig der "Behavioralen Inhibition" (BI), hier speziell der "Frühkindlichen behavioralen Inhibition", als vorbelastendes Temperamentsmerkmal für die spätere Entwicklung von Angststörungen auf. Gehemmtheit im frühen Kindesalter kann demnach der Vorbote für ein erhöhtes Risiko der sozialen Angst und für den Mutismus sein. "Infant behavioral inhibition, particularly towards social stimuli, is a temperamental feature associated with a lifetime diagnosis of selective mutism" (Gensthaler et al. 2016).
Zusammengefasst lässt sich festhalten, dass bei der Suche nach den Ursachen des Mutismus genetische Faktoren, neurobiologische Faktoren, neurologische Entwicklungsprozesse, Temperamentsmerkmale und soziale Prägungsmechanismen berücksichtigt werden müssen.
Literatur
American Psychiatric Association (2015): Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen - DSM-5. Deutsche Ausgabe herausgegeben von Peter Falkai und Hans-Ulrich Wittchen. Göttingen: Hogrefe.
Black, B. & Uhde, T. W. (1995): Psychiatric characteristics of children with selective mutism: A pilot study. Journal of the American Academy of Child and Adolescent Psychiatry 34, 847–856.
Chavira, D. A., Shipon-Blum, E., Hitchcock, C., Cohan, S. & Stein, M. B. (2007): Selective Mutism and Social Anxiety Disorder: All in the Family? Journal of American Academic Child and Adolescent Psychiatry 46/11, 1464–1472.
Dobslaff, O. (2005): Mutismus in der Schule. Berlin: Volker Spiess.
Gensthaler, A., Khalaf, S., Ligges, M., Kaess, M., Freitag, Ch. M. & Schwenck, Ch. (2016): Selective mutism and temperament: the silence and behavioral inhibition to the unfamiliar. European Child & Adolescenct Psychiatry 18, 1–8. DOI 10.1007/s00787-016-0835-4.
Hartmann, B. (Hrsg.) (32010): Gesichter des Schweigens - Die Systemische Mutismus-Therapie/SYMUT als Therapiealternative. Idstein: Schulz-Kirchner.
Hartmann, B. (2011): Mutismus und Schule – Grundlagen, Empfehlungen und Strategien für den Umgang mit schweigenden Schülern. Mutismus.de 3/6, 4–23.
Hettema J. M., Neale M. C. & Kendler K. S. (2001): A Review and Meta-Analysis of the Genetic Epidemiology of Anxiety Disorders. American Journal of Psychiatry 158/10, 1568–1578.
Kristensen, H. (2000): Selective mutism and comorbidity with developmental disorders/delay, anxiety disorder, and elimination disorder. Journal of the American Academy of Child and Adolescent Psychiatry 39, 249–256.
Kristensen, H. & Torgersen, S. (2001): MCMI-II Personality Traits and Symptom Traits in Parents of Children with Selective Mutism: A Case Control Study. Journal of Abnormal Psychology 110/4, 648–652.
Oerbeck B., Manassis K., Overgaard K. R. & Kristensen H. (2016): Selective mutism. In: Rey JM (ed), IACAPAP e-Textbook f Child and Adolescent Mental Health. Geneva: International Association for Child and Adolescent Psychiatry and Allied Professions 2016.
Smith, B. R. & Sluckin, A. (Eds.) (2015): Tacklin Selective Mutism. A guide for professionals and parents. London Philadelphia: Jessica Kingsley Publishers.
Steinhausen, H. C. & Adamek, R. (1997): The family history of children with elective mutism: a research report. European Child & Adolescent Psychiatry 6, 107–111.
Mutismus vs. Autismus (ASS)
Eine differenzialdiagnostische Abgrenzung des selektiven Mutismus (ICD-11: 6B06) gegenüber der Autismus-Spektrum-Störung (ICD-11: 6A02) kann u.a. durch sechs Merkmale im Verhalten der Betroffenen vorgenommen werden:
a) Angststörung
Während die Autismus-Spektrum-Störung eine tiefgreifende neurologische Entwicklungsstörung darstellt, wird der Mutismus seit der Erstveröffentlichung des DSM-5 der American Psychiatric Association (APA) unter die Angststörungen subsumiert.
b) Überwindbarkeit
Menschen mit ASS bleiben ein Leben lang mit der Grundbehinderung verbunden. Dagegen gehört der Mutismus zu den überwindbaren Störungsbildern und verfügt im Kindesalter über eine ausgesprochen gute Prognose.
c) Konstanz
Menschen mit ASS verhalten sich gleichbleibend zurückgezogen, kontaktarm und abwehrend gegenüber Wahrnehmungsanreizen des Umfeldes und bevorzugen selbststimulierende visuelle und auditive Stereotypien, während Mutisten zwei völlig unterschiedliche "Gesichter" zu haben scheinen: hier der introvertierte, gehemmte Schweiger – dort der gelöste, anhängliche Lebhafte.
d) Emotionalität
Menschen mit ASS zeigen sich emotional meistens eher unterkühlt, können nur schwer einen gefühlsmäßigen Kontakt selbst zu ihren Eltern und Geschwistern aufbauen, machen sich schon als Säugling beim Hochheben durch die Mutter körperlich steif. Mutisten sind dagegen in den Situationen, in denen sie sich ungehemmt verhalten und lebhaft sprechen, überaus emotional, suchen geradezu den äußerst engen Kontakt zu einem Elternteil (häufige Mutter-Kind-Symbiose).
e) Sprachentwicklung
In schweren Fällen (Frühkindlicher Autismus bzw. Low Functioning Autism/LFA) entwickeln Menschen mit ASS aufgrund neurolinguistischer und neuromotorischer Störungen nur eine redundante, auf den Ebenen Artikulation, Prosodie, Grammatik-Morphologie, Semantik-Lexikon und pragmatisch-kommunikative Kompetenz auffällig abweichende Sprache. Die Schriftsprache bleibt ihnen häufig verschlossen oder ist allein über die "Gestützte Kommunikation" (Facilitated Communication/FC) anhand von Buchstabentafeln oder Buchstabentastaturen anzubahnen. Zusätzlich werden in die Gestützte Kommunikation auch Methoden und Ansätze der "Unterstützten Kommunikation" (Augmentative and Alternative Communication/AAC) mit Einsatz von Körpersprache und Gebärden integriert. Mutisten verfügen dagegen über eine mindestens altersentsprechende Entwicklung der (Schrift-)Sprache, benötigen also keine speziellen Konzeptionen einer Kommunikationsdidaktik. In vielen Fällen ist der schriftliche Ausdruck sogar überdurchschnittlich gut, da er aufgrund des situativen Schweigens (z.B. in der Schule) als das Kompensationsmittel eingesetzt wird.
f) Verhaltensstereotypien
Die Autismus-Spektrum-Störung wird durch die Wiederholung von Verhaltensmustern und Bewegungsabläufen flankiert, der Mutismus dagegen nicht. Hier fehlen wiederkehrende motorische Autostimulationen z.B. durch Finger-, Hand- und Ganzkörperbewegungen, Handlungsrituale sowie selbstisolierende Sonderinteressen (Auswendiglernen von Fahrplänen etc.).
Aus: Hartmann, B.; Lange, M. (92024): RATGEBER Mutismus im Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalter. Überarbeitete und ergänzte Auflage. Idstein: Schulz-Kirchner.
In Heft 24 der Fachzeitschrift Mutismus.de finden Sie weitere wichtige Unterscheidungsmerkmale. Mutismus ist keine Unterform der Autismus-Spektrum-Störung, sondern ein eigenständiges Störungsbild, das häufig eine Querverbindung zur Sozialen Angststörung und auch Depression aufweist. Die am 1. Januar 2022 in Kraft getretene neue ICD-11 verweist auf die Diagnose "selektiver Mutismus" (6B06) und ordnet sie den "Angst- oder furchtbezogenen Störungen" (6B0) zu.
Ausschlusskriterien nach der ICD-11 sind:
-
Schizophrenie (6A20)
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Autismus-Spektrum-Störung (6A02)
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Vorübergehender Mutismus als Teil von Trennungsangst bei jungen Kindern (6B05).
Mutismus nach dem
Diathese-Stress-Modell
Stress ist keine konstante Größe, sondern individuell unterschiedlich hinsichtlich Ursache, Intensität und Qualität. So können bestimmte Umwelteinflüsse (Reize), die das Individuum zu Anpassungsleistungen herausfordern, entweder als positiv (Eustress) oder als negativ (Dysstress) empfunden werden. Entscheidend für das jeweilige Reaktionsverhalten auf einen Stressor ist die unterschiedliche Gewichtung von Ereigniswahrnehmung und Ressourcenwahrnehmung.
Beispiel
Schweigt ein Kind in der Schule hartnäckig und häufig über Jahre hinweg, während es im familiären Umfeld spricht, lässt sich die mutistische Symptomatik nach dem Diathese-Stress-Modell derart interpretieren, dass
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die primäre Einschätzung (primary appraisal, auch Ereigniswahrnehmung) der Unterrichtssituation und die damit erfahrenen Anforderungen an kommunikative Kompetenzen, Dialogfähigkeit und rhetorisches Ausdrucksvermögen sowie
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die zweite Einschätzung der eigenen Ressourcen (secondary appraisal, auch Ressourcenwahrnehmung) wie kommunikative Unsicherheit z.B. aufgrund von Artikulationsstörungen, Dysgrammatismen, Stottern oder Bilingualität zu einer derart starken Bedrohung führen, dass die einzige
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unbewusste Bewältigungs- bzw. Copingstrategie das Vermeidungsverhalten Mutismus ist.
Stress und eine vulnerable Bewältigung entstehen immer dort, wo die Ressourcenwahrnehmung aufgrund von Einschränkungen und Belastungen der Ereigniswahrnehmung unterliegt. Die Bewältigung dieser als bedrohlich wirkenden Situation zeigt sich jedoch nur in jenen Fällen als vermeidendes Schweigen, in denen eine familiäre Disposition für ein gehemmtes, kommunikativ zurückgezogenes, introvertiertes, aber auch depressives und durch Angst gekennzeichnetes Verhalten vorliegt.
Das Diathese-Stress-Modell und seine Implikationen für den Mutismus lassen sich folgendermaßen darstellen (s. Abb. 1):

Abb.1: Mutismus nach dem Diathese-Stress-Modell
Die fünf Parameter, die bei der Bewertung eines auf die Person bezogenes interaktiven Ereignisses relevant sind und die Ressourcenwahrnehmung direkt beeinflussen, sind:
Physische Konstitution: Der somatische Entwicklungsstand stellt das Fundament für den gesamtpersonalen Reifungsprozess dar. Körperliche Retardierungen, schwere Sprachentwicklungsstörungen oder intellektuelle Defizite aufgrund einer frühkindlichen Hirnschädigung können die seelische Befindlichkeit und damit die Ressourceneinschätzung beeinflussen. Die Häufung von Sprachstörungen bei mutistischen Kindern scheint für einen locus minoris resistentiae im Hinblick auf die Entwicklung von sprachlichen Verarbeitungsprozessen zu sprechen. Eine andere physische Komponente, die bei der Ätiologie des totalen Schweigens vorzufinden ist, sind psychotische Grunderkrankungen. Als häufigster somatologischer Verursachungsfaktor ist die hereditäre Prädisposition für ein sprachlich introvertiertes, ängstliches Verhalten zu nennen, das sich vor allem in der Furcht vor ungewohnten sozialen Kontakten (z.B. Einschulung), d.h. in der insuffizienten Selbstwirksamkeitserwartung, äußert.
Psychische Konstitution: Die kognitive, seelische und emotionale Befindlichkeit definiert die Ich-Stärke eines Individuums und trägt damit entscheidend zur Bewertung von Krisensituationen bei. Seelische Spannungszustände (z.B. Depressionen oder Ängstlichkeit) lassen ein Ereignis (z.B. Einschulung) schnell zu einer unüberwindbaren Herausforderung werden, es wird mit Schweigen reagiert.
Soziale Konstitution: Die Qualität der interaktiven bzw. interpersonellen Kontakte prägt entscheidend die sozialen Verhaltensmuster eines Individuums und damit die soziale Integration. Aufgebaute soziale Netzwerke können die Krisensituation und deren subjektive Bewertung abschwächen, Isolation lässt einen Menschen unerfahren im sozialen Miteinander werden. Interaktive Ereignisse (z.B. Einschulung) können bei familiären Isolationstendenzen und einem reduzierten Verhaltensrepertoire zu einer negativen Ressourceneinschätzung ("Ich weiß nicht, wie ich mich verhalten soll") und damit zu einer vulnerablen Bewältigung (Mutismus) führen.
Erfahrungen: Eine große Bedeutung bei der Ressourceneinschätzung ist das Potential an Erfahrungen, das sich im interaktiven Geschehen entwickelt. Liegen Erfahrungen zur kontrollierenden Bewältigung vor, ist die betroffene Person in der Lage, diese an ähnliche Situationen zu adaptieren und Generalisierungseffekte bei neu auftretenden Ereignissen zu erzielen. Beispiel: Die Einschulung wird vom Kind in ähnlicher Weise gemeistert wie der Eintritt in den Kindergarten. Sind dagegen die Erfahrungen negativ geprägt und keine theoretischen Lösungskonstruktionen entwickelt worden, ist die vulnerable Bewältigung wahrscheinlich. Beispiel: Das in Verbindung mit dem Eintritt in den Kindergarten entstandene Schweigen wird durch die Einschulung verstärkt.
Objektive Bewältigungspotenzen: Schließlich hängen die subjektiven Bewertungen der eigenen Bewältigungspotentiale von den objektiv vorhandenen Bewältigungspotenzen ab. Liegen bei sachlicher Betrachtung nur sehr reduzierte oder gar keine Bewältigungsmöglichkeiten vor, so ist eine kontrollierende Bewältigung eines zur Interaktion zwingenden Ereignisses unwahrscheinlich. Als Beispiel kann hier der (s)elektive Mutismus in Verbindung mit einer Nichtbeherrschung der Landessprache, d.h. des Kommunikationsmodus des engsten sozialen Umfeldes, bei Migrantenfamilien genannt werden, der bei Kindern, die in den Kindergarten kommen oder eingeschult werden, aufgrund der objektiv nicht vorhandenen Bewältigungspotenz (keine Kompetenzen in der neuen Sprache) entsteht.
Das Schweigen lässt sich nach dem Diathese-Stress-Modell als Folgeerscheinung von intrapsychischen Insuffizienzpotenzen und Negierungstendenzen gegenüber als bedrohlich empfundenen interaktionalen Geschehnissen interpretieren mit der Diathese der Prädisposition des Betroffenen bzw. der Familie für kommunikative Gehemmtheit und Angst.
Das Diathese-Stress-Modell ist das verbindende Element zwischen den psychologischen und somatologischen Verursachungsfaktoren im Hinblick auf das Verständnis des Schweigens und seine Pathogenese. 1997 wurde in der damals 4. Auflage des Buches Mutismus - Zur Theorie und Kasuistik des totalen und elektiven Mutismus erstmals der von den Klinischen Psychologen Davison & Neale begründete Ansatz auf den Mutismus übertragen und weiterentwickelt, in der Hoffnung, mit der paradigmatischen Verknüpfung von psychologischen und somatologischen Verursachungsfaktoren die Wechselhaftigkeit von Prädisposition und seelischer Verarbeitung von negativ empfundenen Umweltkonfigurationen herausarbeiten zu können und damit dem Verständnis dieses oft mystisch wirkenden Erscheinungsbildes ein weiteres Stück näherzukommen.
Mit diesem Erklärungsmodell liegt ein Ansatz vor, mit dessen Hilfe konzeptionelle Einseitigkeiten bei der Interpretation des Mutismus vermieden werden können - wie etwa die Ausblendung medizinischer Sichtweisen - und der den mannigfaltigen psychophysiologischen Faktoren bei der Verursachung und Persistenz des mutistischen Verhaltens gerecht zu werden versucht.
Weitere Informationen zum Diathese-Stress-Modell können Sie Heft 18 der Fachzeitschrift Mutismus.de entnehmen. Sie können das Heft bestellen, indem Sie auf das Titelbild klicken.